Mühlenhof liegt an der Loire

Veröffentlicht auf von Bembelo

Diesen liebevollen Artikel über die Heimstatt von Tim , Struppi und Kapitän Haddock wurde Ende August in der

Welt am Sonntag veröffentlicht.  Mir fällt es zugegebenermaßen nicht leicht eine Springer-Zeitung zu loben, aber diesen Artikel finde ich richtig gut.

 

 

Welt am Sonntag     28.August 2011

 Schloß jetzt !

von Jens Golombek

 

An der Loire stehen Hunderte Schlösser. Jedes Anwesen hat seinen eigenen Charakter, eines beherbergt die weltberühmten Comicfiguren Tim und Struppi. Ein Ortstermin

Ende gut, alles gut! Wir haben zwar den Schatz nicht gefunden, dafür aber haben Sie das herrliche Schloss Ihrer Ahnen wieder!" Mit dieser Sprechblase muntert Comic-Held Tim, der rasende Reporter mit Tolle und Töle, seinen Freund Kapitän Haddock auf. Der sonst so griesgrämige Seebär findet seinen neuen Besitz Mühlenhof (französisch: Moulinsart) tatsächlich "prachtvoll" und "wunderbar". Der prächtige Comic-Palast ist indes kein Wolkenschloss: Mühlenhof gibt es wirklich, es heißt bloß anders, nämlich Cheverny, und liegt an der Loire im Département Loir-et-Cher, zehn Kilometer südöstlich von Blois.

 

Anfang der 40er-Jahre sah der belgische Comic-Autor und -Zeichner Hergé (1907-1983) in einer Broschüre eine Fotografie der zwischen 1620 und 1630 errichteten Barockanlage. Fortan verwendete er sie regelmäßig als Schauplatz für seine Kult-Comic-Reihe "Tim und Struppi" (französisch: Tintin). Abgebildet war Mühlenhof zum ersten Mal 1944 in "Der Schatz Rackhams des Roten", dem elften "Tintin"-Abenteuer. Allerdings stutzte Hergé, der übrigens niemals in Cheverny gewesen ist, den Prachtbau etwas zurecht und ließ die beiden wuchtigen Seitenflügel links und rechts vom Haupthaus einfach weg. Der cholerische Kapitän muss sich also mit dem bescheideneren Mittelteil des Gebäudes begnügen.

 

"Sie geistiges Pantoffeltierchen!", "Ihr Gurkennasen!", "Diplombandit!" - zu solchen Zornesausbrüchen à la Haddock würde sich der Marquis de Vibraye, Chevernys echter Eigentümer, natürlich niemals hinreißen lassen. "Er ist ein sehr netter Chef", schwärmen die charmanten Damen, die jährlich über 350 000 Besucher durch das Schloss führen. Hase und Hirsch in Chevernys angrenzenden Gehölzen sehen das sicherlich etwas anders, schließlich gehört der Marquis zu jenem kleinen, feinen Kreis der französischen Hautevolee, der noch immer das traditionelle Jagdrecht besitzt und stilecht in roter Uniform mit Kappe und Plastron das Halali zur Hatz blasen darf.

 

"Hunderttausend Höllenhunde!" Dieser deftige Haddock-Fluch mag manch einem Besucher entfleuchen, der sich im Schlosspark von Cheverny dem großen Zwinger nähert, in dem eine Meute von über hundert Vierbeinern umhertollt. Mit ihren treuherzigen Augen und dem schwarz-braun-weißen Fell sehen die Jagdhunde fast so niedlich aus wie Tims Foxterrier Struppi. Aber wehe, wenn sie losgelassen! Ihr Kläffen wird nur noch vom Krach im angrenzenden Nebengebäude übertroffen, wo in der Dauerausstellung "Die Geheimnisse von Mühlenhof" einer anderen beliebten Figur aus Hergés Comic-Kosmos ein Denkmal gesetzt worden ist: dem genialen Professor Bienlein. Über verschachtelte Korridore geht es ins Laboratorium des zerstreuten Erfinders. Hier lassen sich per Knopfdruck die verschiedensten skurrilen Apparaturen aktivieren, die ein Inferno aus grellen Lichteffekten und ohrenbetäubendem Lärm entfachen. Etwas benommen wankt man am Ende dem Ausgang entgegen, vorbei an einer Fotogalerie mit den Honoratioren des Dorfes, die einige Nebenfiguren aus den "Tim und Struppi"-Comics mimen. So grinsen einem zum Abschied ein Jean Claude als Butler Nestor und Monsieur Pierre Bois als Versicherungsvertreter Fridolin Kiesewetter entgegen.

Solche Sperenzchen wären im Château de Valençay im benachbarten Département Indre völlig deplatziert. Im 19. Jahrhundert herrschte hier noch die hohe Kunst der Diplomatie. Kein Gebiet, auf dem Kapitän Haddock punkten kann, denn auch das Wort "Politiker" gehört zu dessen Schimpfwortkanon. "Ich wünsche, dass Ihr einen herrlichen Landsitz erwerbt, dass Ihr dort glanzvolle Empfänge für den diplomatischen Korps und die bedeutenden ausländischen Persönlichkeiten gebt." Dieser Wunsch Napoleons war seinem Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand Befehl. 1803 kaufte er Valençay für 1,6 Millionen Francs und holte die große Welt in das abgelegene Schloss. Wer heute andächtig mit dem brillant konzipierten Audio-Guide durch die Säle und Galerien des Anwesens schreitet, meint wirklich Stimmen aus längst vergangener Zeit zu hören.

 

Mindestens so interessant wie die prunkvollen Gemächer ist das Kellergewölbe des Schlosses. Hier erhält man nebenbei eine Einführung in die Geschichte der französischen Kochkunst - die war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch arg verbesserungswürdig. Nicht einmal die riesige Schlossküche ist "fabriqué en France". Talleyrand ließ sie nach dem Wiener Kongress 1815 samt Inventar aus der österreichischen Hauptstadt herankarren. Auch die Zeremonie der Menüfolge bedurfte ausländischer Anregung, ausgerechnet durch einen Russen! Es war Fürst Alexander Kurakin, der den Gourmet Talleyrand davon überzeugte, die Gerichte nacheinander zu servieren, anstatt, wie damals üblich, alles gleichzeitig auf den Tisch zu stellen.

Bestes Beispiel für den Weltruhm der französischen Haute Cuisine ist heute im Tal der Loire die "Auberge de XII. Siècle" in Saché. In dem windschiefen, mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Dorfgasthof ließ sich schon der Schriftsteller Honoré de Balzac kulinarisch verwöhnen. Zwischen den mit Foie gras gefüllten Ravioli, der Blumenkohl-Creme auf Räucherspeck und dem Adlerfisch in Rotweintunke sollte der Gast also ruhig einmal sein Glas auf den russischen Diplomaten erheben.

 

Der eher handfester Hausmannskost zugeneigte Haddock würde im nahe gelegenen Château de Villandry mutmaßlich einen zu viel kriegen. Das letzte im Renaissance-Stil 1536 fertiggestellte Loire-Schloss ist vor allem wegen seiner einzigartigen Gartenanlagen ein Publikumsmagnet. Eingefasst von Balustraden, Wäldern und dem gleichnamigen Dorf, erstrecken sich kunstvoll arrangierte Gemüse- und Salatbeete terrassenförmig hinter dem Gebäudetrakt. Schlossherr Henri Carvallo führt durch seinen Besitz und klaubt dabei penibel weggeworfene Papierfetzen und verwelkte Gräser vom Boden auf: "Zweimal im Jahr bepflanzen wir unsere Gemüsegärten mit 40 verschiedenen Sorten. Die Ernte verteilen wir auch an die Besucher. Es wäre doch schade, alles wegzuwerfen." Acht Gärtner bilden aus 250 000 Blumen- und Gemüsepflanzen jedes Jahr aufs Neue einen dekorativen Teppich aus streng geometrischen Ornamenten: akkuraten Reihen, Winkeln und Kreuzen aus rotem Kohl, blauem Lauch, grünen Artischocken, Salatköpfen, Erbsen und Petersilie. Rüpel Haddock hat für solcherlei Gartenkunst eine passende Bezeichnung parat: "Salatschnecken!"

Von Villandrys Zaubergärten sind es nur ein paar Kilometer zum Renaissance-Zauberschloss Azay-le-Rideau. Eingebettet liegt es zwischen verschlungenen Flussarmen - "wie ein rautenförmig geschliffener Diamant, der in die Indre eingesetzt wurde", schrieb Honoré de Balzac. Die verschnörkelten Türmchen, Pilaster und Gesimse verleihen Azay-le-Rideau einen fast märchenhaften Charakter. Auf die mystische Atmosphäre setzt auch die Schlossverwaltung und hat dafür extra eine Schauspielerin engagiert. Als Fee Melusine im langen Schlauchkleid mit Fledermausärmeln tänzelt sie auf Zehenspitzen wild herumfuchtelnd staunenden Kindergruppen voran und erzählt mit Flüsterstimme von verwunschenen Prinzessinnen, Kobolden und bösen Hexen.

 

Etwas desillusionierender ist hingegen die Führung für die Erwachsenen. Die kostbaren Gemälde, Teppiche, Möbel und Gobelins der Innenausstattung können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Alltag des 16. und 17. Jahrhunderts wenig glamourös war. Mit einem Mal wirkt die Decke aus tonnenschweren Eichenbalken bedrückend und die breite Bettstatt darunter alles andere als einladend. "Sie müssen sich vorstellen, dass man sich damals zu viert oder fünft nebeneinander zur Nachtruhe niedergelegt hat, den Zwiebelatem des Nachbarn im Nacken", erklärt die junge Touristenführerin. "Wir sprechen hier nicht von einer Menage à quatre, sondern von Hygiene. Man blieb vollständig angezogen und schlief in denselben verschwitzten, müffelnden Kleidern, die man seit Monaten nicht gewechselt hatte. Niemand wusch sich, und die Notdurft wurde an Ort und Stelle hier im Schloss verrichtet."

Lassen wir zum Schluss noch einmal Kapitän Haddock diese unhaltbaren Zustände kommentieren: "Hunderttausend eiternde Pestbeulen!" Und für die Menschen der Renaissance und des Barock hält das Repertoire des Raubeins auch einen geeigneten Kraftausdruck parat: "Schweißfußindianer!"

 

 

 

 

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