Klaus Theweleit über Art Spiegelman

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Ein Künstler der anderen Art

Wie der Underground-Comic mit Art Spiegelmans «Breakdowns» nach Deutschland gekommen ist – und warum der Zeichner auf die Erläuterungen seiner vollständigen Neuauflage besser verzichtet hätte

Den aufgeklärtesten und halluzinatorischs­ten Blick auf die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die amerikanische Welt und das Spektrum ihrer Verrücktheiten, entfaltete in den Sechzigern eine eng verbundene Gruppe ameri­kanischer Comic-Zeichner in San Francisco. Um die Mitte dieses Jahrzehnts produzierten und vertrieben Robert Crumb, Bill Griffith, Kim Deitch, Gilbert Shelton, Art Spiegelman und einige andere in dieser Stadt DIN-A-5-Hefte – zuerst in Schwarz-Weiß, dann auch farbig. Was sie darin aufs Papier brachten, kann man heute als eine Sammlung ziemlich aller Verletzungen geltender Tabus ansehen, die bis dahin – insbesondere für die Darstellung des Sexuellen – in Amerika und sonstwo bestanden. Als «Amerikas einzige wirkliche Revolution des 20. Jahrhunderts» hat der Autor Patrick Rosenkrantz die Arbeit dieses San Francisco Comic Underground bezeichnet (womit der Autor der besten Arbeit über diese Gruppe genannt ist).

Als im Jahr 1980 Art Spiegelmans «Ge­sammelte Comic Strips» zum ersten Mal auf Deutsch erschienen, Titel: «Breakdowns» (1978 im amerikanischen Original), war das für Buchmenschen in Deutschland kein Ereignis, für die Insider der «Comix»-Szene aber eine kleine Sensation. Der amerikanische Underground-Comic war hier selbst dem interessierten Publikum fast nur durch Robert Crumb bekannt (und dieser vor allem durch die Filmversion seines Sex-Comics «Fritz the Cat», die er selber als misslungen ablehnte). Oder durch Anthologien, wie das von Bernd Brummbär herausgegebene «Radical America» – ein dickeres Heftchen mit grünem Cover, in dem mir zum Beispiel die lüsternen Gewalt-Piraten in Clay Wilsons wahnsinnigen Strips zum ers­ten Mal begegnet sind.

Leute von hier, die selber zeichneten und öfter in Amerika waren, kannten sich besser aus. Heinz Emigholz, Zeichner, Filmemacher, Autor (heute Professor an der Berliner Universität der Künste), war in New York auf Spiegelmans «Breakdowns» gestoßen. Der Titel hat einen Mehrfachsinn. Er bezeichnet ein Montageverfahren bei der Farbgebung von Strips, lässt sich aber wörtlich ins Deutsche übersetzen: Zusammenbrüche. Neben einigen anderen Bedeutungen fallen Zusammenbruch und Umbruch hier in einem Begriff zusammen. Emigholz und sein Freund Martin Langbein (mit dem auch ich befreundet war), schlugen eine Übertragung der «Breakdowns» ins Deutsche vor; ich stellte den Kontakt zum Verlag Roter Stern her, bei dem auch meine anderen Bücher umbrochen wurden. Der Verlag war angetan von dem Heft, fand aber, dass einige Arbeit nötig wäre, diese zeichnerische Delikatesse dem in puncto Comics und besonders «Underground Comix» völlig un­ter­entwickelten deutschen Publikum näherzubringen. Martin Langbein und ich übernahmen das.


Mit der Maus zum Pulitzer-Preis

Spiegelman versorgte uns für unser Beiheft mit dem nötigen Material; also all dem, was er durch amerikanische Comics, die er von früher Kindheit an aufgesogen und verschlun­gen hatte, kennengelernt und in seinen eigenen Strips verarbeitet hat; genau so wie Literaten, Maler oder Filmemacher die Arbeit von Kollegen in ihre Arbeit hineinnehmen und umwandeln. Das gab es also auch im Comic. Lauter Material, das in Deutschland so gut wie niemand kannte. So produzierten wir das gleichformatige Beiheft «Bruch®» und brachten da alles hinein, was wir in Spiegelmans «Breakdowns» an Bezügen zu den Strips anderer Zeichner entdecken konnten, angefangen beim deutschen Comic-Erfinder Rudolph Töpfer (den Goethe schätzte) über die «Katzenjammer Kids», Winsor McCays «Little Nemo», George Herrimans «Krazy Kat», Rube Goldbergs verrückte Antifunktions-Maschinen und Chester Goulds «Dick Tracy» zu den Zeichnungen in Harvey Kurtzmans Satire-Magazin «Mad», Will Eisners «Spirit», Bernard Krigsteins KZ-Comic «Master Race» von 1955, hin zu Bill Griffith’ «Zippy»-Figur, den Rabbits und Schweinchen der «Looney Tunes» – und und und.

In Spiegelmans «Breakdowns» stecken eine Unmenge Bezüge zu einer Unmenge anderer amerikanischer Comics, aber auch zu europäischen Bild- und Denkwelten, zu Picasso oder Freud, welche für uns leichter zu entdecken waren, sozusagen auf der Hand lagen. Dabei ging es auch darum, den Comic aus der Tagesunterhaltung, aus der Funny Section der Sonntagszeitungen, herauszulösen und als Kunstform (gleichberechtigt mit anderen Künsten) zu etablieren. Inzwischen rangiert der Comic in einschlägigen Lexika als «neunte Kunst». Das Besondere an Art Spiegelmans «Break­downs»-Comics war, dass jeder von ihnen ein wechselndes Personal hat und jeder sich in einer anderen Zeichentechnik versucht. Zeichnerisch erkunden sie die diversen Mög­lichkeiten der Gestaltung des einzelnen Panels und der einzelnen Seite; das ist immer auch gezeichnete Comic-Theorie.

1980 setzte der Verlag die gedruckte Auflage der «Breakdowns» ab und druckte dann, mangels Vorbestellungen, nicht mehr nach. Dies blieb auch so, als Art Spiegelman mit seinem Auschwitz-Comic «Maus» (vom Leben und Sterben vor, in und nach «Mausch­witz», der gezeichneten Lebensgeschichte seiner Eltern, wie sein Vater sie ihm erzählt hat) weltberühmt geworden war. In «Breakdowns» finden sich die ersten drei gezeichneten Seiten von «Maus». Ein Meisterstück in Schwarz-Weiß, von dem niemand wusste, auch Art selber nicht, dass einmal zwei ganze Bücher daraus werden würden, welche den Nazi-Terror der Deutschen gegen die polnischen Juden (als Vorgang zwischen »Katzen« und »Mäusen«) im Genre eines Tier-Comics, und zugleich die Geschichte seiner eigenen Familie (verkörpert von polnischen Mäusen) wie in einem Film-Roman zeichnerisch darstellbar machen würden. Art Spiegelman, der Miterfinder der Graphic Novel, kam so zu seinem Pulitzer-Preis.

Das zweite auf die Shoah rekurrierende Stück in «Breakdowns», «Prisoner On The Hell Planet», in dem Spiegelman den Selbstmord seiner Mutter in den USA 1968 unter Anwendung der Dunkelheiten des deutschen Expressionismus zeichnerisch zu bewältigen sucht, ist nicht weniger eindrucks­voll.


Wahnwitzig selbstverliebt

25 lange Jahre war «Breakdowns» nun nicht mehr lieferbar. Wem vor zwei, drei Jahren zuerst die Idee kam, sie wieder aufzulegen, weiß ich nicht. Stroemfeld in Frankfurt war interessiert; aber auch ein renommierter amerikanischer Verlag, Pantheon Books in New York. War aber eine einfache Neuauflage nach 30 Jahren sinnvoll? Noch dazu bei einem inzwischen weltberühmten Autor? Mit Pantheon Books kam Art Spiegelman überein, eine neue Einleitung zu den «Break­downs» zu verfassen und ein neues Nachwort dazu; die Einleitung als Comic, das Nachwort in Schriftform, mit einmontierten Bildbeispielen. Stroemfeld/Roter Stern bekam die Rechte zum neuen Buch nicht mehr; «Breakdowns», samt neuem Vor- und Nachwort, ging jetzt an S. Fischer. Die neue Ausgabe hat vierzig alte und dreißig neue Seiten. Die vierzig Seiten «Breakdowns» in der Mitte sind identisch mit der alten Ausgabe von 1980; die Übersetzung von Heinz Emigholz ist beibehalten wie auch das brillante Lettering von Dieter Kerl (Lettering, das ist das handschriftliche Setzen der Buchstaben in den Sprechblasen und anderer Wör­ter in den Panels). Der Druck ist ausgezeichnet; das alte «Breakdowns» ist also in der Fischer-Ausgabe komplett vorhanden. Dazu kommen dreißig neue Seiten: 21 gezeichnete vorn, neun geschriebene mit Bildbeispielen hinten. Hier beginnt die Crux.

Ich mäkele nicht gern an Art Spiegelmans Zeichnungen herum; er hat genügend wunderbare geliefert. Aber die Panels dieses Vorworts, in dem er so etwas wie eine zeichnerische Autobiografie seines Comic-Lebens versucht, bleiben (in meinem Auge) hinter der Artistik seines sonstigen Zeichnens zurück. Mir erscheinen sie weniger konzentriert, manchmal geschludert; dazu in vielen Punkten das wiederholend, was Spiegelman in vielen Interviews der letzten Jahren erzählt hat – dazu teilweise arg selbstverliebt. Wobei «selbstverliebt» in diesem Kontext ja eigentlich kein passender Vorwurf ist. Die wahnwitzig übertriebene Selbstverliebtheit ist ja gerade ein Markenzeichen der Underground-Revolutionäre der sechziger, siebziger Jahre. Was aber in diesem Vorwort ein bisschen verstört: dass die Selbstverliebtheit nicht übertrieben genug ist, womit aus ihr eine Art Ernst wird. That goes not!

Spiegelman beschließt dieses Vorwort mit Zitaten aus Victor Sklovskijs Schrift «Kunst als Verfahren» von 1917 und klemmt in die Panels Sätze wie diese ein: «Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstands zu vermitteln, als Sehen und nicht als Wie­dererkennen. Das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der Verfremdung der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form.» Was immer solche Sätze sagen sollen, sie erhellen den Vorgang des Comic-Zeichnens als Kunst kaum und wirken auch theoretisch etwas abgestanden. Dass Art Spiegelman ein avancierter Theoretiker des Comics ist, ist aber an seinen Zeichnungen selbst zu sehen. Das theoretische Denken schlägt sich in der Konstruktion seiner Panels nieder. Seine verbalen Äußerungen fallen demgegenüber ab – ein weiterer Beleg, dass es in der Kunst nicht unbedingt des Wortes bedarf, um ästhetische Theorien zu formulieren.


Besser als Picasso

Mit dem Nachwort sieht es besser aus. Es enthält eine Menge Angaben zu den Quellen, den Erstveröffentlichungen der «Break­downs»-Teile, alle zwischen 1972 und 1977 entstanden und fast alle gedruckt zuerst in Underground-Magazinen aus San Francisco. Man erfährt eine Menge zu den (psychedelischen) Daseinszuständen Spiegelmans und seiner Zeichner-Freunde Bill Griffith, Julian Green, Kim Deitch und anderer in den Jahren 1965 bis 1975. Man bekommt eine Beschreibung seiner ersten Begegnungen mit Robert Crumb, dessen «Genius» er auf der Stelle erkennt und bewundert.

Verstörend ist allerdings das eruptive Auftauchen einer Krankheit, die Spiegelman mit einer Horde anderer Künstler teilt: das spezifische Einzigartigkeits-Syndrom in den Selbstdarstellungen des Sohn-Künstlers der judäo-christlichen Kulturen, Ableger seines Propheten- oder Jesus-Komplexes. Art Spiegelman über sich (in der dritten Person): «In einer Underground Comic Szene, die ihre Lebensberechtigung aus dem unentwegten Bruch irgendwelcher Tabus bezog, brach er jenes eine Tabu, an das sich noch keiner gewagt hatte, er wagte es, sich einen Künstler zu nennen und sein Medium eine Kunstform.» Wenn das Selbstironie sein sollte, hat er sie jedenfalls gut versteckt. Artie der Erste, der das Comiczeichnen als Kunst anerkannt haben wollte? Dass ich nicht lache.

Das ist ein Topos spätestens bei Robert Crumb, aber auch schon Herriman reißt Witze über den Zeichner als «Artisten», und Winsor McCay (Little Nemo), Hal Foster (Prinz Eisenherz) oder Edgar Rice Burroughs (Tarzan) waren sich ihres Künstlerstatus voll bewusst; ebenso Walt Disney, zumindest was seine Animationsfilme angeht. Comix als Kunst – das ist ja gerade die Errungenschaft der Underground-Szene von San Francisco; und genau das, was ihnen allen gemeinsam war.

Sie sind darin als Künstler-Gruppe absolut vergleichbar den Regisseuren der Nouvelle Vague zu Anfang der Sechziger in Frankreich: Truffaut, Chabrol, Godard, Rivette, Rohmer. Robert Crumb, Bill Grif­fith, David Lynch, Gilbert Shelton, Julian Green, Kim Deitch, Art Spiegelman arbeiten im gemeinsamen Bewusstsein, das Comic-Zeichnen in einer vorher nie da gewesenen Transgression, alle absolut drogenbefeuert, zu einer Kunstform erhoben zu haben. Eine Kunstform, die modernes Leben in Amerika zwischen 1960 und 1980 nicht nur ebenso gut, sondern genauer aufzeichnet als irgendeine Kunstform sonst. Sogar das Kino stellen sie mit ihren transgressiven Strips in den Schatten. Spiegelmans Behauptung, die Comic-Zeichner seien genauso gut wie Picasso, hinkt dabei den Kollegen eher hinterher. Denn sie sind besser als Picasso; bessere Künstler im Erfassen der Absurditäten und auch Schönheiten gegenwärtiger Lebensbedingungen. Das Einzige, worin Spiegelman der erste (und einzige) unter den Comic-Zeichnern war, ist, dass er Art mit Vornamen heißt. Woraus man Artie oder Artist machen kann. Mami und Papi wollten das Erstere, er wollte aber Letzteres, der Herr Künschtler sein, genau wie die Freunde in seiner Umgebung.

Die Zeichnungen in «Breakdowns» sind davon unberührt, sie sind nach wie vor bestes Futter für das Comic-Tier im lesenden Menschen. Jedem Comic-Liebhaber schärfstens zu empfehlen; ebenso allen, die einsteigen wollen in die Geschichte des Comics und der Comix als Ursprungszentren aller amerikanischen Kunst. Und sowieso allen, die Art Spiegelman nur von «Maus» her kennen; hier erleben sie ihn als Zeichner einer ganz anderen Art.

 

Klaus Theweleit ist Schriftsteller und Professor für Kunst und Theorie an der Staatlichen Akademie der Bilden­den Künste Karlsruhe. Zuletzt veröffent­lichte er mit Rainer Höltschl «Jimi Hendrix. Eine Biographie»
 

Art Spiegelman
Breakdowns. Portrait des Künstlers als %@*!
Aus dem Amerikanischen von Jens Balzer.
S. Fischer, Frankfurt 2008. 82 S., 9,95 €

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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